Das Wort „verbringen“ hat mich auf die Palme verbracht und ich dachte daran, etwas über Sinn und Unsinn von Vorsilben zu schreiben. Doch dann stieß ich auf den folgenden Artikel im „Spiegel Online“, den ich ziemlich ähnlich verfasst hätte. Darum, im Gegensatz zu Dr. von Guttenberg, mit Quellenangabe:
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Zitatbeginn***
Bitte verbringen Sie mich zum Flughafen!
Von Bastian Sick
Am Anfang war das Wort. Und vor das Wort drängte sich - die Vorsilbe! Seitdem ist die Sprache nicht einfacher geworden, dafür aber reicher. In der Regel stellen Vorsilben nämlich eine Bereicherung der Sprache dar. In einigen besonders vornehmen Fällen sind sie sogar eine Anbereicherung.
Seit dem Start ist Henry unleidlich. “Was ist denn los?”, frage ich. “Ich habe Blähungen!”, stöhnt mein Freund. “Reiß dich bloß zusammen”, sage ich, “sonst löst du unter den Passagieren eine Panik aus!” - “Ich hasse dich”, erwidert Henry. “Ich weiß”, sage ich, “du hättest eben auf das zweite Sandwich verzichten sollen.” In diesem Moment beugt sich die Stewardess, die mit dem Einsammeln des Plastikgeschirrs beschäftigt ist, zu uns herab und fragt: “Könnten Sie mir das Tablett wohl eben anreichen?” Henry lächelt gequält und sagt: “Würde es Ihnen unter Umständen genügen, wenn wir Ihnen das Tablett einfach reichen?” Die Stewardess setzt den berühmten “Äh-wie?”-Blick auf, und um uns allen weitere Peinlichkeiten zu ersparen, empfehle ich ihr, den Herrn neben mir einfach für den Rest des Fluges zu ignorieren.
“Was mischst du dich in meine Unterhaltungen mit blonden Frauen?”, entrüstet sich Henry, kaum dass die Stewardess außer Hörweite ist, “hast du nichts zu lesen dabei?” - “Ich dachte, du hast Blähungen, da wollte ich die junge Dame nur so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone bugsieren …” - “Die litt ja selbst an Blähungen, wie deutlich zu hören war”, erwidert Henry. “Könnten Sie mir das Tablett wohl anreichen? Das ist Silbenschaumschlägerei!” - “Vielleicht dachte sie an anreichern oder etwas Ähnliches”, sage ich.
Henry sieht mich mitleidig an: “Oder sie war vorher im Kloster, wo sie alles über das Anreichen des Kelches beim Abendmahl gelernt hat. Und weil sie es nicht erwarten konnte, in den Himmel zu kommen, wurde sie Stewardess.” - “Achtung, Henry, dein Niveau droht wieder mal abzusinken!”, merke ich an. Henry zuckt zusammen: “Da, jetzt machst du es schon selbst! Absinken hast du gesagt. Das ist gequirlter Unfug. Es gibt weder absinken noch aufsinken!” - “Ich wollte erst absacken sagen und habe mich dann im letzten Moment für sinken entschieden, und so wurde absinken daraus”, versuche ich mich zu verteidigen. “Absenken wird auch gern gebraucht”, fällt Henry ein, “vor allem im Zusammenhang mit Konstruktionsfehlern: ‘Die Decke der Kongresshalle hatte sich abgesenkt.’ Ein Bedeutungsunterschied zwischen senken und absenken ist nicht nachweisbar, daher kannst du auf das ‘ab’ getrost verzichten.”
Während Henry sich bemüht, seine natürlichen Gasvorkommen unter Kontrolle zu halten, schaue ich aus dem Fenster und denke über Vorsilben nach. Da fällt mir meine Großmutter ein, mit der ich früher so oft Scrabble gespielt habe. Sie verstand es meisterlich, Wörter durch Vorsilben zu verlängern und damit hohe Punktzahlen zu erzielen. Inzwischen ist sie 94 und bettlägerig. In der Gebrauchsanleitung für ihr Heimpflegebett Marke “Theutonia II” habe ich den Satz gelesen: “Mit vier Lenkrollen ausgestattet, lässt sich das Bett auch mit darinliegendem Patienten im Zimmer verfahren.” Darüber habe ich mich sehr gewundert. Man kann sich in Paris verfahren oder im Ruhrpott, aber in einem Zimmer? Die Wörter “rollen” oder “schieben” waren dem Verfasser offenbar zu profan. So ersann er das “Verfahren”.
Apropos Verfahren: In der Amtssprache ist es ein geläufiges Verfahren, unauffällige Verben mit Vorsilben zu versehen, sodass sie auffällig werden. Dadurch soll der Ton offizieller klingen, korrekter, bedeutsamer. Tatsächlich klingt er eher seltsam, wenn nicht gar gruselig. In Polizeiberichten wimmelt es von solchen vorsilbigen Schauergeschöpfen. Wenn vom Transport von Verletzten die Rede ist, dann heißt es grundsätzlich: “Die verletzten Personen wurden ins Krankenhaus verbracht.” Ich gebrauche das Verb “verbringen” eher in aktivischen Zusammenhängen wie “Meinen letzten Urlaub habe ich in Frankreich verbracht” und “Meine Nachbarin verbringt viel Zeit vor dem Fernseher”. Als Synonym für “bringen” verwende ich es nicht. Jedenfalls habe ich noch zu keinem Taxifahrer gesagt: “Bitte verbringen Sie mich zum Flughafen!”
Mitunter findet man das Verb “verbringen” anstelle von “deportieren”: “Tausende Juden wurden nach Auschwitz verbracht und getötet.” Hier lässt sich seine Verwendung damit begründen, dass ein klarer Bedeutungsunterschied zum einfachen Verb “bringen” besteht: in “verbringen” klingen Unrecht und Gewalt an - genau wie bei “verschleppen” im Unterschied zum harmlosen “schleppen”. Warum aber werden Verletzte im Polizeijargon ins Krankenhaus “verbracht” statt “gebracht”? Der Transport ist doch weder gewaltsam noch unrechtmäßig. Davon ging ich zumindest immer aus.
Vorsilben dienen dazu, ein Wort genauer zu bestimmen oder ihm eine andere Bedeutung zuzuschreiben. Man denke nur an das Verb “schreiben”: Da gibt es einschreiben und ausschreiben, vorschreiben und nachschreiben, aufschreiben und zuschreiben, anschreiben und abschreiben. Und natürlich verschreiben, und das gleich in mehreren Bedeutungen: Man kann ein Medikament verschreiben, Tinte verschreiben, sich beim Schreiben verschreiben - und Polizeibeamte können offenbar auch Berichte ver-schreiben, jedenfalls hört sich ihr Stil danach an.
Wenn kein Bedeutungsunterschied vorliegt, dann ist die Vorsilbe überflüssig. So wie bei dem Wort “abbergen”, Fachjargon für “Rettung aus Seenot”. Oder wenn der Fliesenleger Fugen “verfüllt”, statt sie einfach zu füllen. Oder wenn ein Gerät als “sportlich beim Anstarten und im Betrieb” gepriesen wird. Denn was der Unterschied zwischen starten und anstarten sein soll, bleibt unklar. Dasselbe gilt für warnen und vorwarnen. Das nachträgliche Warnen ist jedenfalls genauso sinnlos wie das nachträgliche Programmieren, daher kann man auf ein “vor” vor diesen Wörtern getrost verzichten. Was bringt es, wenn wir Dinge abändern wollen, statt sie einfach nur zu ändern? Ist es günstiger, eine Wohnung anzumieten, statt sie zu mieten? Steigen Löhne schneller, indem man sie ansteigen lässt?
Ein leises Stöhnen von Henry reißt mich aus meinen Gedanken. “Soll ich die Stewardess bitten, dir einen Kräutertrank zu bringen?”, frage ich mitleidig, “das hilft!” Henry verzieht das Gesicht: “Damit sie mir einen Jägermeister anserviert? Nein danke, mehr Blähungen verkrafte ich heute nicht!”
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Testen Sie selbst: Können Sie bei den folgenden Wortpaaren einen Bedeutungsunterschied feststellen? Falls nicht, hört sich die längere Variante wenigstens schöner an? Wenn auch das nicht der Fall ist, dann wissen Sie, wo Sie was (ein)sparen können!
Vorsilben im Test: Flüssig oder überflüssig?
abändern ändern
abklären klären
abmildern mildern
abmindern mindern
absenken senken
absinken sinken
abzielen zielen
anmieten mieten
ansteigen steigen
anwachsen wachsen
auffüllen füllen
aufoktroyieren oktroyieren
aufzeigen zeigen
ausborgen borgen
ausleihen leihen
mithelfen helfen
verfüllen füllen
vorankündigen ankündigen
vorprogrammieren programmieren
vorwarnen warnen
zuschicken schicken
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Zitatende***
Nachtrag dazu, heute erstmals im WDR gehört: „vergesellschaften“. Es ging um Affenneuankömmlinge, die in eine Gruppe integriert werden sollten…
Ich habe gerade„Black Swan“ sehen dürfen - und konnte dem Film trotz der zahlreichen „Oscar“-Nominierungen nichts abgewinnen! Trotz einer gertenschlanken Natalie Portman etwas zu viel Ballett und zu wenig Handlung für meinen Geschmack. Wie „Showgirls“, aber ohne Sex. Bei der Gelegenheit: ich habe auch „Der englische Patient“, „Aus der Mitte entspringt ein Fluss“ und „Titanic“ nie ganz gesehen/geschafft…
Dafür habe ich „Die Tribute von Panem“, von Suzanne Collins, als Hörbuch inhaliert und kann die Bücher uneingeschränkt empfehlen…